Piet Mondrian, Tableau No. I
Piet Mondrian ist einer der wichtigsten Vertreter der künstlerischen Avantgarde, betrachtet man diese als eine Entwicklung von der Figuration zur Abstraktion. In seinem Werdegang scheint der Künstler diese stilistische Evolution vollzogen zu haben, wobei er immer auf der Suche nach der Einheit und dem Wesen des Bildes an sich war. Piet Mondrian fand durch die Auseinandersetzung mit Landschaft zur Abstraktion. Erst ab Anfang der 1920er-Jahre konzentrierte sich der Künstler auf eine komplett gegenstandslose Bildsprache, die sich auf die rechtwinklige Anlage von schwarzen Linien mit Flächen in Weiß und den drei Grundfarben beschränkte. Diese Werke sind es, die Mondrians Bild in der Öffentlichkeit bis heute prägen. Mondrian selbst nannte diesen um 1920 entwickelten Stil Neoplastizismus.
In diesem Zusammenhang ist Tableau I ein Schlüsselwerk. Sein heutiges Erscheinungsbild ist das Ergebnis einer Überarbeitung des Gemäldes durch Mondrian im Jahr 1925. Eine erste Version des Werkes entstand 1921, vielleicht schon 1920.
Zwischen 1917 und 1920 malte Mondrian Bilder, die auf einem dichten und regelmässigen Gitterwerk beruhen und wie nach einem Baukastenprinzip zusammengesetzt erscheinen. Bis Ende 1920 setzte Mondrian dünne, graue Gitterlinien ein, in der späteren Entwicklung sind die Gitterlinien dann dominanter, breiter und ausschliesslich schwarz.
Die schwarzen Linien auf Tableau I sind von einheitlicher Stärke und bis zum Rand durchgeführt. Im Zentrum des Gemäldes steht eine schmale, hochrechteckige schwarze Fläche, um die herum rote, blaue und gelbe Farbflächen gruppiert sind. Die Farbe Blau wird in einem dunklen Ton und verschiedenen hellen Tönen verwendet. Der Gelb- und der Rotton sind jeweils relativ hell. Die farbliche Entwicklung von Tableau I geht von gemischten Farbtönen (1920/21) hin zu reinen Primärfarben. Faszinierend ist, wie Mondrian die verschiedenen Farbebenen nutzt, um eine optische Raumillusion zu erzeugen.
Die Arbeit unserer Restauratoren hat nun gezeigt, dass Tableau I ebenfalls ein regelmässiges, mit Bleistift gezeichnetes Gitter zugrunde liegt, an dem sich Mondrian orientiert zu haben scheint, als er die Linienstruktur des Bildes entwickelte und die relativ frei wirkende geometrische Struktur gefunden hat, die das Bild heute prägt.
Aufnahmen des Werkes in verschiedenen bildgebendend Verfahren geben unterschiedliche Informationen: sichtbares Licht, Streiflicht, Durchlicht, UV-Fluoreszenz, IR-Auflicht, IR-Durchlicht, Röntgen
Alle guten Dinge sind drei
Spurensuche an der Signatur
Tableau I trägt neben der Signatur (Initialen) die Doppeldatierung «1921–1925». Als einer der ersten Künstler seiner Zeit versah Mondrian viele seiner Werke mit Doppeldatierungen. Dies brachte eine neue Vorstellung von der Werkdatierung mit sich. Mondrian wollte damit keine längere, stetige Arbeitsphase andeuten, sondern betonen, dass das Werk zweimal bearbeitet wurde, dass es eine Lücke zwischen diesen zwei Bearbeitungsphasen gab und somit einen klaren zeitlichen und stilistischen Schnitt.
Mondrian datierte Tableau I erstmals im Jahr 1921 («21»). Mondrian-Spezialisten datieren das Kompositionsschema jedoch eher auf das Jahr 1920 als auf 1921.
Das Datum 1925 erhielt Tableau I zusammen mit drei weiteren Werken, als Mondrian diese bereits gemalten Gemälde für die Ausstellung Mondrian, Man Ray in Dresden im September 1925 (Kunsthandlung Kühl und Kühn, Dresden) nochmals überarbeitete. Es wird vermutet, dass Mondrian, als er das Werk auf 1925 datierte, sich irrte oder das ursprüngliche Entstehungsdatum – 1920 oder 1921 – schlicht vergessen hatte (Mondrians «Rückdatierungen» sind bekannt und auch seine mehrfachen Irrtümer).
Diese Theorie kann jedoch durch eine nähere Betrachtung der Signatur widerlegt werden: Unter Vergrösserung ist deutlich zu erkennen, dass die Zahl «21» in die noch frische, nasse Farbe eingetragen wurde und die «25» viel später auf die in diesem Bereich längst trockene Malschicht. Somit wurde das Werk tatsächlich zunächst im Jahr 1921 datiert. Mondrian betrachtete Tableau I daher einmal zu diesem Zeitpunkt und dann nochmal im Jahr 1925 als abgeschlossenes Werk.
Detail entlang Unterkante: Signatur «PM ’21–25»
Die weitere Entdeckung einer Datierung durch Infrarotreflektografie
Durch die Untersuchungen an Tableau I im Zuge des Piet Mondrian Conservation Projects konnte – neben der oben beschriebenen Doppeldatierung – eine dritte, erste Datierung des Werkes entdeckt werden. Die Infrarotreflektografie kann Malschichten unter der jetzigen Oberfläche sichtbar machen. Abhängig von den Pigmentzusammensetzungen der Malschichten können diese Strahlen absorbiert, gestreut oder transmittiert werden.
Die erste Signatur
Unter der heute vorhandenen Doppeldatierung befindet sich eine frühere: Deutlich zu erkennen ist der Schriftzug «PM ‘2». Alle verfügbaren technischen Untersuchungen wurden ausgeschöpft, aber leider ist die wichtige zweite Ziffer nach der Zwei nicht zu erkennen. Diese Entdeckung gibt wertvolle Hinweise: Das Werk wurde dreimal datiert und somit dreimal von Mondrian als vollendet angesehen. Für die drei Bearbeitungsphasen gibt es daher zwei Möglichkeiten: 1920, 1921 und 1925 oder zweimal in 1921 und dann 1925. Somit bleibt die Theorie der Spezialisten weiterhin offen, ob das Werk nicht bereits 1920 entstand. Vertieft man sich in die maltechnischen Details des Werkes (siehe unten), könnte durchaus die erste Version 1920 entstanden sein, wobei ein klarer stilistischer Schnitt zwischen 1920 und 1921 natürlich nicht zu verzeichnen ist und es sich eher um einen fliessenden Prozess handelt.
Frühe Ausstellungen in den Jahren 1920 und 1921?
Auch die frühe Ausstellungsgeschichte des Werkes könnte Hinweise auf die Frage nach den Datierungen der Jahre 1920 oder 1921 geben, da Mondrian seine Werke erst signierte, wenn diese ausgestellt wurden oder zum Verkauf standen.
Das Werk wurde gemäss Provenienz 1925 das erste Mal ausgestellt. Es ist jedoch denkbar, dass das Gemälde bereits für eine Ausstellung in 1920 (Kubisten en Neo-Kubisten, Juni–Dezember 1920) vorgesehen war, dann aber kurzfristig zurückgezogen wurde. Möglich, dass Mondrian es bereits für diese Ausstellung datiert hatte. Auch gab es 1921 eine Ausstellung in Amsterdam (Leon Rosenberg, Oktober 1921), in der nicht näher dokumentierte Werke gezeigt wurden. Dazu schrieb der Künstler im September 1921 «It’s not my latest work, but about a year old …», was auf einen Datierungszeitraum Ende 1920 oder Anfang 1921 hindeuten würde. Eines der für die Ausstellung dokumentierten Werke besaß dieselben Masse wie Tableau I.
Detail der Zahl «21», welche in die noch frische Farbe gemalt wurde, und der Zahl «25», welche auf die längst trockene Malschicht aufgetragen wurde
Detail der Signatur in normalen Licht (oben), in Infrarotreflektografie (Mitte) und Hervorhebung der ersten Signatur unter der jetzigen Malschicht (unten)
Wandlung mit stilistischer Entwicklung
Mondrian bearbeitete Tableau I also dreimal. Es stellt sich die Frage, was er jeweils veränderte? Wie sahen die ersten zwei Versionen aus? Wie entwickelte sich die Komposition während der drei separaten Bearbeitungsphasen? Da Mondrian an seinen Werken häufig Veränderungen vornahm und frühere Versionen oft ganz wegkratzte oder -wischte, ist es schwierig, konkrete, erste Versionen zu bestimmen. Jedoch gibt es an Tableau I viele einzelne Hinweise zu Überarbeitungen.
Raster und Komposition
Das Röntgenbild des Werkes gibt einige Hinweise darauf, dass in einer früheren Komposition mehr schwarze Linien angedacht waren. Abhängig davon, ob Mondrian diese bei der Überarbeitung wegkratzte oder übermalte, erscheinen diese Linien auf dem Röntgenbild dunkel oder hell. Die Überlagerung dieser Linien auf die jetzige Komposition (Abbildung) verdeutlicht, dass das Werk ursprünglich ein dichteres Gitternetz hatte.
Ein weiterer Beweis für das Arbeiten mit einem streng regelmässigen Gitternetz zeigt die Untersuchung des Werkes unter Durchlicht-Infrarotreflektografie. Unter der Malschicht der roten Rechtecke (bei den anderen Farben leider nicht zu sehen) ist ein deutliches Gitternetz erkennbar, vorgezeichnet mit Bleistift und Lineal (Abbildungen).
Natürlich könnte diese Zeichnung unter der Malschicht von einem anderen Bild stammen, welches Mondrian begann, dann aber aufgab und die Leinwand für Tableau I ein zweites Mal verwendete. Wenn man jedoch das vorhandene regelmässige Raster mit gleichem Abstand fortsetzt und über die jetzige Komposition legt, so ist erstaunlicherweise zu bemerken, dass fast alle Linien und Felder innerhalb der Proportionen dieses Rasters liegen und dieses somit wie eine unmerkliche Struktur der gesamten Komposition hinterlegt ist.
Mondrian arbeitete von 1917 bis 1920 mit solchen regelmässigen Gittern als Ausgangspunkt seiner Kompositionen. Dies wäre ein Indiz dafür, dass Mondrian dieses Gemälde vielleicht doch bereits 1920 begann.
Stetiges Vergrössern und Verkleinern
Beim Betrachten des Gemäldes unter dem Mikroskop und dem Vergleich mit der Röntgenaufnahme können sowohl an den schwarzen Linien als auch an den farbigen Rechtecken etliche Veränderungen nachverfolgt werden. In den untenstehenden Detailfotos wird dies veranschaulicht. Im Vergleich zur Röntgenaufnahme ist deutlich zu erkennen, dass die schwarze Linie ursprünglich dünner war und nachträglich verstärkt wurde. Dies bestätigt sich auch unter mikroskopischer Vergrösserung: Das Schwarz der Linie läuft über das blaue Feld. Mit Streiflicht (starkes Seitenlicht, welches die Oberflächenstrukturen deutlich macht), sieht man, dass das blaue Feld ursprünglich grösser war und sich unter der verbreiterten schwarzen Linie abzeichnet. Auch im offenen Krakelee ist die blaue Farbe zu erkennen.
Diese Detailuntersuchungen wurden an allen Linien durchgeführt. Die schwarzen Linien wurden sämtlich bei Tableau I verbreitert und die Höhe und Breite der farbigen Rechtecke dabei leicht verkleinert.
Schmalere und zum Teil graue Linien setzte Mondrian nur bis etwa Ende des Jahres 1920 ein, danach werden die Gitterlinien breiter und ausschliesslich schwarz. Tatsächlich lassen sich auch unter einigen der schwarzen Linien Hinweise auf graue Farbe erkennen, was wiederum für eine erste Version von 1920 sprechen könnte.
Farben über Farben
Genaue Untersuchungen der Aussenkanten des Gemäldes sowie der Umrisse der farbigen Rechtecke geben weitere interessante Hinweise zu Mondrians Veränderungen an Tableau I. Unter fast jedem der Rechtecke befinden sich mindestens zwei frühere Schichten Farbe, die teilweise stark von der jetzigen Komposition abweichen.
So waren etwa die insgesamt fünf blauen Felder zuerst hell-, dann dunkelblau, bevor sie jetzt ein mittleres Blau aufweisen. Dies ist sehr gut an der Kontur eines dieser Felder nachzuvollziehen.
Das längliche, hellgraue Rechteck war ursprünglich sogar rot, wie eine kleine Beschädigung entlang der Aussenkante sowie das offene Krakelee stellenweise zeigen. Die gelben Felder wurden von ursprünglich Hellgrau zu Dunkelgelb bis zum jetzigen helleren Gelbton verändert. Die roten Rechtecke waren vor dem jetzigen puren Rotton ursprünglich Orangerot.
Die farbliche Entwicklung von Tableau I gleicht dem künstlerischen Wandel Piet Mondrians in der Wahl seiner Farbtöne, von gemischten (bis um 1920/21) bis hin zu später immer reineren Primarfarben.
Trotz der ergiebigen Untersuchungen des Piet Mondrian Conservation Projects gelingt die Rekonstruktion der ersten Versionen von Tableau I nur annähernd. Allerdings deuten die Befunde auf eine erste Version von 1920 anstatt 1921 hin. Die an Tableau I zu beobachtenden Bearbeitungsprozesse spiegeln den stilistischen Entwicklungsprozess in Mondrians Werk zwischen 1920 und 1925 wieder, der ihn schließlich zu seinem heute berühmten Neoplastizismus brachte.
Das Röntgenbild (links) gibt Hinweise auf frühere Kompositionselemente. Rechts sind diese auf die Gesamtabbildung in Pink übertragen
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Eukalyptus
In Eukalyptus zeigt sich eindrucksvoll, wie Mondrian in Komposition und Farbgebung mit kubistischen Stilmerkmalen experimentierte.
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Verschaffen Sie sich einen Überblick über die sieben Mondrian-Werke und das Piet Mondrian Conservation Project.
Composition No. VI
(Compositie 9, Blue Façade)
Mondrian greift in Composition No. VI die gegenständliche Erscheinung des Wohnhauses kaum auf, sondern vielmehr die strukturellen und farblichen Charakteristika als motivische Inspiration.